Leseprobe
Aus dem 5. Kapitel „Funeral for a friend“:
Aber selbst wenn ich mit dieser Nummer keine Premiere hingelegt haben sollte, bezweifelte ich pauschal, dass die weiteren Umstände schon mal dagewesen waren. Das jetzt gerade war ein Kick, den sich vermutlich auf der ganzen Welt noch nie jemand gegeben hatte. Und darum ging es ja schließlich. Meine Definition von Glück war nach wie vor, so viele krasse, extreme, seltene, unglaublich surreale Situationen wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich unterzubringen. Mach ständig das, was vor dir noch keiner oder kaum einer getan hat – so ungefähr lautete meine Antwort auf die Sinnfrage.
Obwohl, so was kann natürlich auch schiefgehen. Spontan fiel mir eine meiner ganz üblen Abfahrten auf der Suche nach dem nächsten Kick ein. Es gab nicht wirklich viel in meinem Leben, wofür ich mich schämte, aber eine Sache gehörte in vorderster Front dazu.
Die Story lief in Amsterdam. Eine Model-Kollegin aus der Pariser Zeit hatte mich eingeladen. Anno damals hatten wir ziemlich zum Ende meiner Uni-Karriere eine nette, aber nicht wirklich wichtige Affäre gehabt, so über ein halbes Jahr hin waren wir halt immer mal wieder zusammen im Bett gelandet. Sie muss damals so 19 oder 20 gewesen sein und sah _richtig_ geil aus.
Ich hatte sie dann völlig aus den Augen verloren und nie wieder an sie gedacht, als 10 Jahre später urplötzlich die Einladung zu ihrer Hochzeit auf den Tisch flatterte. Sie war wie gesagt in Amsterdam gelandet und hatte sich einen echten Goldfisch geschnappt. Ihr Typ machte irgendwas mit Sportwetten, Onlinewetten und solchem Zeug und war recht dick drin. Sein Laden war fast halb so groß wie die Fintelligence, recherchierte ich auf die Schnelle. An dem Wochenende hatte ich sonst nichts Wesentliches vor, also einfach mal hinfahren.
Die Party war mittelmäßig. Ziemlich ideenlos, aber mit genügend Geld kann man keine wirklich schlechten Partys organisieren. Es heißt zwar immer, dass Geschmack durch nichts zu ersetzen ist – was stimmt –, aber es gilt andererseits auch, dass man keinen völligen Müll produzieren kann, wenn man einfach die teuersten Angebote der teuersten Läden pro Aufgabengebiet zusammenkauft. Also ein komplettes Symphonieorchester für die Kirche, einen Drei-Sterne-Koch fürs Büffet, irgendwelche Grammy-Preisträger als Tanzkapelle und so weiter.
Als vermeintliches Highlight dann aber David Copperfield, und das ist ja nur noch abgehalftert und megapeinlich. Ein Grund, auf der Stelle zu fahren. Das wollte ich gerade tun, als die Braut auf mich zusteuerte, die ich bisher nur aus der Entfernung gesehen hatte – zur offiziellen Begrüßung war ich zu spät gewesen.
„Ich muss mit dir reden“, sagte sie.
Oh my God. Das ging gar nicht. So richtig nicht. Viel weniger als überhaupt nicht.
„Weil, ich habe da ein Problem“, sagte sie.
Da hatte sie recht. Sogar ein verdammt großes, ein riesengroßes.
„Und zwar mit dir – und deswegen habe ich dich auch eingeladen“, sagte sie.
Sie sah fürchterlich aus. Also, ich meine, mal so richtig übel. Ok, ein 20.000-Euro-Kleid und ein auf 2.000,- Euro geschätzter Visagist können vieles retten, aber der Kommentar „abgehalftert“ über David Copperfield wurde gerade extrem relativiert. Was um Gottes Willen hatte sie mit sich gemacht? Entweder acht Jahre heroinsüchtig am Bahnhof gestanden oder dreimal krebskrank gewesen?
„Weißt du, damals du und ich in Paris, das war ja jetzt nicht so was Tiefes, Verbundenes, das ist mir schon klar“, sagte sie.
Nach meiner Rechnung musste sie gerade mal 30 sein. Wie grausam kann die Natur eigentlich sein? Ok, es gibt wirklich Frauen, die sehen mit 20 nach nichts aus und werden dann mit 27 oder 30 richtig heftig, aber das hier war der mehr als deprimierende Beweis des Gegenteils. Ich dachte daran, wie wunderbar sie mit 20 war, und verfluchte einmal mehr die Zeit und das Leben an sich – was für eine Verschwendung und was für ein Verlust.
„Aber trotzdem, so wie mit dir war es im Bett hinterher nie wieder mit einem, und da waren wirklich genug zum Vergleichen“, sagte sie.
Ich fragte mich, wie sich dieses hyperverbrauchte Ding den Goldfisch geangelt hatte. Der musste blind sein.
„Das hat mir nie Ruhe gelassen. Es heißt entweder, dass beim Sex doch nur Technik und Aussehen zählen, oder aber, dass ich damals doch in dich verliebt war, ohne es zu merken oder vor mir selbst zuzugeben“, sagte sie.
Was erzählte sie da eigentlich die ganze Zeit? Ich hatte ehrlich gesagt nicht gerade konzentriert zugehört.
„Die einzige Möglichkeit, das herauszufinden, ist – ich will noch mal mit dir schlafen, und zwar genau jetzt“, sagte sie.
Was bitte? Sie hatte wohl eine doppelte Portion Größenwahn gefrühstückt oder echt schlechte Drogen genommen. Was bildete sie sich ein? Der Gedanke war ja nur ekelhaft und abstoßend. Entweder hatte sie mindestens sechs Jahre nicht in den Spiegel gesehen oder nicht begriffen, wer hier vor ihr stand. Mir liefen angewidert Schauer über den Rücken.
„Gehen wir in einen Nebenraum?“, fragte sie und schaute mich erwartungsvoll an.
Andererseits war die Situation schon wieder so krank, dass es genial war. Eine Frau, die ich zehn Jahre nicht gesehen hatte, lädt mich zu ihrem Mein-Stecher-muss-jetzt-meine-Rente-zahlen-Event ein, nur um mir ansatzlos Psycho-Müll zu erzählen und vor allem mit mir zu vögeln. Wenn sie nicht so ekelhaft ausgesehen hätte, gar keine Frage – der Moment war so durchgeknallt, dass es für die Top 20 der krankesten Abfahrten des Jahrzehnts reichte. Eine Story, von der man noch seinen Enkelkindern erzählen kann, mit anderen Worten Pflichtübung. Es war wirklich schade, dass mich der Gedanke, sie auch nur zu berühren, fast kotzen ließ.
„Hast du keine Angst, dass wir erwischt werden und du eine tendenziell sehr kurze Ehe erlebst?“, fragte ich.
„Ich habe viel mehr Angst, dass diese Frage unbeantwortet bleibt“, sagte sie. „Außerdem habe ich mich im Vorfeld ein wenig umgesehen. Der Heizungskeller ist ok. Und ich habe gestern Abend eigenhändig eine Innentasche in mein Kleid genäht, um Gummis mitnehmen zu können, bevor du das fragst.“
Es war mit das Ekelhafteste, was ich je getan habe. Sie sah so unerträglich aus, aber ich wollte diese Geschichte erzählen können. Eine ganz bittere Lektion über mich selber. Wie weit kann man sich erniedrigen für „Du glaubst nicht, was mir letztens passiert ist“?
Als wir gerade fertig waren, riss ihr Goldfisch die Tür auf und stürmte mit einem abgeschlagenen Flaschenhals in der Hand auf mich zu. Ich konnte meine Hose gerade noch schnell genug zuknöpfen, um ihn mit zwei, drei Tritten vor den Heizkessel zu befördern. Er knallte blutend auf den Boden, wollte aufstehen, brüllte mir irgendwas Niederländisches entgegen und griff wieder nach seinem Flaschenhals. Es gab mir das moralische Recht, noch ein paarmal zuzutreten, Selbstverteidigung halt. Zunächst war ich ihm unendlich dankbar. Wenn er mir nicht geholfen hätte, meine Autoaggression abzuleiten, ich weiß nicht, ob ich die Nacht überlebt hätte.
Ein paar Tage später kaufte ich einen abgehalfterten Wett-Anbieter, brachte den Laden auf Vordermann, positionierte ihn genau gegen die Goldfisch Inc. und trieb den Typen binnen eineinhalb Jahren in die Pleite. Fair genug. Vielleicht hatte er mir das Leben gerettet, ok, vor allem aber hatte er mich körperlich angegriffen in einem Moment, wo es mir wirklich schon dreckig genug ging.
Trotzdem muss man sagen, dass die Geschichte kein Happyend hatte. Als Goldfisch pleite war, interessierten mich meine eigenen Wettbüros plötzlich so richtig gar nicht mehr, sie passten ja auch nicht wirklich ins Portfolio. Und wie es halt so ist, wenn man sich nicht um jeden Dreck selber kümmert, brachte das Amöben-Management, das ich mit eingekauft hatte, den Laden binnen weniger Monate erneut in Schieflage. Das Ding war längst am Rande der Insolvenz, bevor ich merkte, was die Trottel da eigentlich trieben. Keine Ahnung, warum ich die nicht sowieso direkt nach dem Kauf rausgekickt hatte – vermutlich, weil es ja eigentlich um was anderes ging und sie zumindest nicht widersprachen.
Der finanzielle Verlust juckte mich zwar eher so überhaupt nicht, aber mein Ruf als der Midas des Beteiligungsgeschäfts, der jeden Erwerb durch bloßes Berühren in Gold verwandelt, war in Gefahr. Es gelang mir nur mit Mühe und Not, den Laden an irgendwelche zugekifften Araber zu verscheuern und mit einer gut schwarzen Null aus der Geschichte auszusteigen. Die Analysten meckerten das einzige Mal in meinem Leben ernsthaft, und ich musste um den Nimbus der Unfehlbarkeit wirklich kämpfen. So gesehen war der ekligste Fick meines Lebens auch noch der teuerste.