Leseprobe

 

Aus dem 2. Kapitel „Betreuter Wohnsinn“, Teil einer Retrospektive auf die Teenager-Zeit unseres Helden:

 

Also alles in allem kein Wunder, dass es nicht lange dauerte, bis meine Special Mission erfüllt war. Ich war meine Unschuld los und der Mädchenschwarm der Schule. Prag lief erst mal perfekt nach Plan. Dummerweise kippte die Sache aber auch. Was mich diesmal aus der Kurve schubste, waren diverse heulende kleine Mädchen, die sich alle in mich verliebt hatten. Altersbedingt war ich für eine Reihe davon der erste Typ, und irgendwie haben Tussen diese fatale Neigung, sich beim ersten Mal zu verlieben. Oder vielleicht sogar schon vorher, weil sie glauben, das muss für das erste Mal so sein.

Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ich mich durch teilweise sogar echtes Interesse für Frauenthemen von den Idioten um mich herum abhob und mich wirklich nach vorne katapultierte, damit es dann beim wahrscheinlich ältesten Mann-Frau-Klischee Stress gab: Ich wollte ficken, sie wollten die große Liebe. Zwei- oder dreimal konnte ich das Problem den anderen Tussen meiner Schule noch als großes Melodram und mich letztendlich als tragisches Opfer der Umstände verkaufen, aber dann hatte ich einen Aufreißerruf weg und war schlagartig unten durch. Bis Mädels den Erziehungsballast einer christlich versauten Kultur abwerfen und zum Spaß am puren Sex stehen, dauert es meistens noch ein paar Jahre mehr.

Das soll aber absolut nicht heißen, dass ich nicht auf der Suche nach einer richtigen Beziehung war. Aber die Hühnchen aus meiner Schule waren wirklich nur Übungsobjekte, wie jeder Mensch kann ich Gefühle halt auch nicht erzwingen, und wie ungefähr 0,5 % aller Menschen habe ich auf Dauer ein Problem mit Frauen, die nicht in meiner Liga spielen. Die Einzige, die es annähernd hätte schaffen könne, war auf dem Öko-Trip und stand nur auf süße kleine Öko-Typen. Den gab ich dann auch ganz brav, aber nach einem Monat war diese Selbstverleugnung sogar mir zu viel. Es fiel erneut auf, dass ich dem ganzen Verein mental Lichtjahre voraus war, das ist immer und immer wieder der Knackpunkt gewesen.

Der naheliegende Schluss war, mich bei älteren Tussen umzusehen. Das funktionierte in der Schule nicht wirklich gut. Das bescheuerte Thema Alter erwies sich als echter Showstopper. Die 17- bis 19-Jährigen ignorierten mich völlig und zogen mit Typen ab, die mir an sich mal so gar nichts entgegenzusetzen hatten, außer der Lappalie, dass sie alle 18 bis 23 waren.

Die Lösung für dieses Problem fand ich dort, wo ich es am wenigsten vermutet hatte: zu Hause. Unser Hausmädchen Elena. Tolle Frau. 22, hatte genug vom Leben gesehen, um zu wissen, was sie wollte, supersüß, clever und tough. Sie hatte sich mit einer bewundernswerten Zähigkeit aus der Ultra-Gosse in eine Position gekämpft, die für die damalige Zeit in dem Land gar nicht mal schlecht war. Und sie hatte wirklich genug Müll erlebt – ohne da jetzt in die Einzelheiten gehen zu wollen. Dazu lange rote Haare und eine Model-Figur bei völlig niedlichen 1,60 m. Das war ein komplett anderes Kaliber als die Kinder aus meinem Jahrgang. Im Gegensatz zu denen – und auch zu mir – hatte sie schon richtig gelebt, und für die erste Zeit unserer Beziehung schaute ich wirklich zu ihr auf. Sie war meine erste feste Freundin, sie war die erste, die mir wirklich viel bedeutete. Sie war auch der Grund, warum ich richtig Tschechisch lernte. In der Schule brauchte ich es gar nicht, ansonsten nur ein paar Grundbegriffe, man kam in der Regel mit Russisch prima durch.

Seit ich mit ihr zusammen war, interessierte mich das ganze Getue in der Schule nicht mehr groß. Sollten die von mir denken, was sie wollten. Ich riss das Allernötigste im Unterricht ab und freute mich auf die Nachmittage mit ihr. Schwer waren nur die Abende. Elena wollte nicht, dass meine Eltern von der Beziehung erfuhren, sie hatte Angst um ihren Job. Immerhin war ich gerade mal 15 geworden, und in enger Gesetzesinterpretation machte sie sich strafbar. Also war abends Kasperletheater angesagt. Schade, ich sehnte mich danach, jede Nacht mit ihr in einem Bett zu schlafen und nicht nur, wenn meine Eltern beide unterwegs waren. Aber ich konnte es ein Stück weit verstehen. Irgendwann fragte ich sie, ob ich nicht noch ein Kind für sie sei und was sie denn überhaupt an mir finden würde.

‚Eine ganze Menge‘, antwortete Elena. ‚Zunächst mal siehst du gut und gepflegt aus. Du bist intelligent, jedenfalls intelligenter als alle, die ich in meinem Alter kenne, du hörst mir zu, interessierst dich für mich, und du bist ein super Liebhaber, weil du total zärtlich bist und es dir wichtig ist, dass der Sex mir Spaß macht. Glaubst du, da spielt das Alter noch eine Rolle?‘

Das war genau der Moment, in dem ich nicht mehr leugnen konnte, dass ich schizo abfuhr. Es war der Moment, in dem ich mich restlos in sie verliebte, alle Schleusen öffnete und ohne Wenn und Aber, ohne doppelten Boden und Hintertür auf sie einstieg und mich nur noch fallen ließ. Es war so wunderschön, sich den eigenen Gefühlen hinzugeben und die völlige Bedingungslosigkeit zu spüren. Es war der Moment, in dem ich realisierte, dass sie auch auf das Verhaltensmuster eingestiegen war, das ein völlig auswendig gelerntes Schema war. Grüße an meinen Kosmetik-Kurs.

Kurz gesagt: Es war ein und dieselbe Sekunde, in der ich mich endgültig verliebte und erkannte, dass sie irgendwen, aber nicht mich in mir sah. Egal. Der Gedanke wurde kurzerhand verdrängt und spielte nicht mehr mit. Sie schlief mit mir, sie sagte, dass sie mich liebt, sie verbrachte so viel Zeit wie möglich mit mir, und ich wollte sie. Was sonst interessierte mich denn?

Ganz kurz nach meinem 16. Geburtstag war sie schwanger. Das überraschte mich zunächst mal, weil sie schließlich die Pille nahm und das Event ganz schön unwahrscheinlich war. Noch viel mehr überraschte mich aber, dass Elena erst meinem Vater und danach mir davon erzählte – schließlich wusste er bis dahin immer noch nicht, dass wir überhaupt zusammen waren.

Ich war trotzdem überglücklich und freute mich ohne Ende. Ich sah in dem Baby die Bekräftigung der gemeinsamen Zukunft, die ich sowieso wollte. Als Mutter meines Kindes würde Elena noch sicherer an meiner Seite bleiben als ohnehin schon.

‚Dein Vater hat mir viel Geld für eine Abtreibung angeboten‘, sagte Elena. Ich rastete völlig aus, stürmte in das Büro meines Vaters und brüllte ihn an, warum er mein Kind ermorden will, dass ich ihn hasse, er ein verrohtes gefühlskaltes Arschloch ist und dergleichen mehr. Wie nicht anders zu erwarten, blieb mein Vater zumindest äußerlich gelassen.

‚Du siehst einen Punkt anders als ich‘, sagte er, ‚du gehst davon aus, dass es euer Kind ist, wenn es auf die Welt kommt. Ich gehe davon aus, dass Elena und das Kind unerreichbar von der Bildfläche verschwinden, sobald es auf der Welt ist und du oder genauer gesagt vorläufig ich zahlungsverpflichtet bin. Das sind dann 20 oder 25 Jahre jede Menge Kosten und Ärger und als lohnenden Ausgleich dafür die emotionale Belastung, dass irgendwo da draußen dein Kind lebt und du nicht den leisesten Hinweis hast, ob es ihm gut geht, ob sich die Mutter um dein Kind kümmert, oder ob es in miesesten Verhältnissen vor die Hunde geht.‘

Ich rastete noch mehr aus und zerlegte mit ein paar frisch erlernten Karatetritten seine Büroeinrichtung in Stücke. Wenn du die Star-Wars-Szene im Kopf hast, in der Anakin Skywalker das Dorf der Tusken als Rache für den Tod seiner Mutter aufmischt – ungefähr so. Ich hatte jede Beherrschung verloren. Rückblickend frage ich mich, warum ich nur die Möbel, aber nicht meinen Vater selbst auseinandernahm.

‚Du weißt nicht, wovon du sprichst‘, schrie ich, ‚Elena liebt mich, wir wollen dieses Kind, und unsere Zukunft ist unsere Familie, also das, was du egoistisches Stück Scheiße nie verstanden hast!‘

Mein Vater blieb völlig stoisch und schaute mir gelassen zu, wie ich erlesenste Möbel zu Bauholz umfunktionierte. Keine Ahnung, warum er keine Angst hatte oder zeigte und nicht angesichts der herumfliegenden Einzelteile vorsichtshalber in Deckung ging.

‚Ich bin mir sicher, dass Elena dieses Kind genauso lieben würde und sich genauso aufopferungsvoll um es kümmern würde wie um ihr erstes Kind‘, sagte er.

Der Schlag saß besser, als es jeder Karateschlag bewirken konnte.

‚Elenas was?‘, stammelte ich und wusste in dem Moment bereits, welche Ausmaße das Loch haben würde, in das ich binnen der nächsten Minuten stürzen würde.

‚Elenas erstes Kind‘, wiederholte mein Vater seelenruhig. ‚Sie hat es mit 19 von einem reichen österreichischen Geschäftsmann bekommen, der 30 Jahre älter als sie und immerhin so anständig ist, jeden Monat deutlich mehr als den gesetzlichen Satz dafür zu zahlen. Allerdings lebt der Kleine nach meinen Informationen bei Elenas Mutter, und Elena liefert bei ihrer Mutter deutlich weniger als den gesetzlichen Satz ab. Leider weiß ich das auch erst seit drei Wochen, als Unstimmigkeiten mit ihrer Steuer-Anmeldung geklärt werden mussten und ich ein wenig recherchieren ließ. Als sie sich hier beworben hat, hat sie das Kind verschwiegen.‘

Ein süßes kleines 30-Zentimeter-Messer mit einer edlen, glänzenden Klinge schwebte durch den Raum, bohrte sich genüsslich in meinen Oberkörper und begann, sich zwischen der vierten und fünften Rippe lustvoll mit etwa drei Umdrehungen pro Minute um die eigene Achse zu drehen. Ich schwieg.

‚Ich halte es auch nicht für Zufall, dass Elena gerade jetzt schwanger geworden ist. Wenn du im Moment der Zeugung noch keine 16 bist, hat sie kurz gesagt jede Menge Ärger, wenn du 16 bist, hat sie kurz gesagt Anspruch auf eine Menge Geld. Ich weiß ja nicht, wie lange sie schon mit dir schläft und was sie dir erzählt hat, aber du solltest der Möglichkeit ins Gesicht sehen, dass sie Kinder von reichen Vätern – oder in diesem Fall Kinder von Vätern mit reichen Vätern – sehr gezielt als Einkommensquelle einsetzt. Wenn dein Kind zur Welt kommt, landet es auch bei der Mutter, wird mehr schlecht als recht am Leben erhalten, und Elena sucht sich den nächsten reichen Liebhaber.‘

Soweit ich mich erinnern kann, war dies das erste und einzige Mal, dass mein Vater ein ehrliches und wichtiges Gespräch mit mir führte. Es war auch das erste und einzige Mal, dass ich meinem Vater etwas irgendwie Wesentliches wirklich glaubte. Es war das Gespräch, das meine Welt, meine Jugend, meine Gefühle in etwa zehn Sätzen in mikroskopisch kleine Stücke zerfetzte und von mir, meinem Leben und meiner Liebe nur Treibholz zurückließ.

Ich verließ wortlos sein zerlegtes Büro und ging in mein Zimmer, in dem Elena auf mich wartete. Ohne ein Wort und ohne Vorwarnung trat ich sie so in Bauch und Unterleib, dass sie garantiert nicht mehr schwanger war und vermutlich auch nie  mehr schwanger werden konnte. Ich ließ meine Jugendliebe als blutendes, wimmerndes, schmerzverzerrtes und fast ohnmächtiges Bündel auf dem Boden liegen, ging ins Badezimmer, um das Blut und den Schweiß abzuwaschen, und danach ein wenig shoppen. Irgendwie nur schwarze Klamotten gekauft an dem Tag. Um in der Star-Wars-Metapher zu bleiben: Zeit für ein erfrischendes Lavabad.

Ich habe sie nie wieder gesehen. Als ich zurückkam, war sie abtransportiert und der Boden gereinigt. Keine Ahnung, was mein Vater da wieder gedreht hat oder wie viel er gezahlt hat, damit auf die Nummer keine Strafanzeige folgte. Interessiert hätte es mich schon, aber wir haben über das Thema nie wieder geredet.